Aufsatz z. 1. Technikergrad

ERSTE WT-TECHNIKER ARBEIT

MEIN  WING TSUN  LEBENSLAUF

Jiu-Jitsu-Aikido-ATK-ler    Lehrgang am 23.10. 1999

In der Halle verspüre ich plötzlich Unsicherheit. So viele ausgebildete Kampfsportler haben sich hier versammelt, um von mir eine professionelle Einführung in WT zu erhalten. Negative Gedankenmuster alter Zeiten lähmen mich:“ Bin ich wirklich so sehr vom WT überzeugt, dass ich denen noch etwas beibringen kann?? Wie kann ich mich unauffällig aus der Affäre stehlen??“. Zu Oliver, meinem Assistenten und WT Trainingspartner, kommen mir denn auch nur folgende Worte über die Lippen:“ Wir sind in der Höhle des Löwen, die sind hier um uns zu testen, oder um sich zu beweisen, dass ihr Kampfsystem mehr taugt als die anderen.“

Eine gemischte Gruppe von ca. 3O Jiu-Jitsu-, Aikido-und ATK- lern in ihren eindrucksvollen Kampfanzügen hat sich inzwischen eingefunden und wartet gespannt auf den Beginn des Lehrgangs und auf die Referentin: auf mich.

Trotz Unsicherheit und großem Respekt vor der Situation, trete ich mit Mut und Entschlossenheit  ohne weiteres Zögern mit festen Schritten in den Raum.

Mit einem leicht verschmitzten Lächeln verkündige ich noch vor der offiziellen Begrüßung- sozusagen als Aufwärmübung – sämtliche Bodenmatten, welche den kompletten Hallenboden bedecken, fortzuschaffen, da diese uns in der realen Selbstverteidigungssituation auch nicht zur Verfügung stehen würden:“ Wenn man hinfällt tut`s halt weh!“

Meine erste Amtshandlung! Sie verschafft mir gleich zu Beginn des Lehrgangs genügend Respekt und Achtung.

Stolz über mich selbst lasse ich meine Vergangenheit Revue passieren. Wann und wie hat sich eigentlich mein Zutrauen an meine Kraft und Stärke so entwickelt?

Dies mit Sicherheit zu beantworten ist mir nicht möglich, in jedem Fall ist es mir in meiner Kindheit und Jugend mit Treffsicherheit gelungen, die eine oder andere brenzlige und demütigende Begebenheit, in der Macht missbraucht wurde, mitzunehmen.

In meiner Kindheit wurde ich z. B. einmal von zwei älteren Jungen aus meiner Schule unangenehm angefasst.

REAKTION: Lähmung, Ohnmacht, Wut.

LÖSUNG: Ich muss mich wehren lernen und mache Judo zusammen mit meiner Freundin für ca. 2 Jahre. Beendet habe ich dies letztendlich weil meine Freundin und ich uns nicht ständig im Schwitzkasten haben mochten, und ich zu der Zeit durch das Judo und im Kampf mit Nachbarskindern genug Selbstbehauptung erlangt hatte.

Um meinem Vater zu gefallen der sich als drittes Kind endlich einen Jungen gewünscht hat, habe ich diese Rolle eingenommen. Umgekehrt hat er in seiner autoritären Erziehungsform (Oberst a. D.) mich dann auch härter angepackt. Daraus habe ich aus der Not eine Tugend gemacht.

Später, als pubertierende Jugendliche, hatte ich drei Begegnungen mit Exhibitionisten, von denen uns damals erzählt wurde, sie wären harmlos. Naiv und dumm kicherte ich mit meiner Freundin an eben diesen „Harmlosen“ vorbei und wir mussten ein ums andere Mal entdecken, dass Erwachsene nicht allwissend sind: Einer verfolgte uns.

REAKTION: Wir wurden schneller, er ebenso. Wir riefen imaginäre Freunde hinter der Mauer. Ich fühlte mich stark genug meine Freundin zu beschützen.  Bekam dann aber doch selbst Angst, als die Haustür, an der wir inzwischen angekommen waren, nicht schnell genug zu ging.

LÖSUNG: Polizei angerufen.

Trotz meiner schon vorhandenen bedrohlichen Erfahrungen, schien mich die unerschütterliche Weltanschauung, dass ich unantastbar bin, weiterhin in ihrem Bann zu halten, so dass ich als Studentin Autobahn getrampt bin !!! Für mich heute eine schier unglaublich provozierende Blödheit. Diese zeigte sich unter anderem, dass ich einmal sogar bei zwei Männern eingestiegen bin. Mein damaliger konstanter Begleiter war mein großer Mischlingshund Bingo, der vermeintliche Beschützer. Vermeintlich insoweit, als dass einer meiner „Chauffeure“ nur trocken bemerkte: „ „Dem Hund schlag ich auf die Schnauze, dann macht der nix mehr und dann bist Du dran!““ Oh. Glück gehabt hatte ich, dass es ihnen reichte, mir nur Angst zu machen, da sie mich wie abgesprochen abgeliefert hatten.

REAKTION: versteckte Panik

LÖSUNG: mit gespielter Bestimmtheit auf den Treffpunkt mit Freunden beharrend.

Als Lösung auf meine Panikreaktion lief ich bei einer weiteren Begebenheit von dem Parkplatz quer auf die Autobahn. Zuständig für diesen Fluchtversuch war ein Lastwagenfahrer, der nach kurzer Zeit wieder anhielt wegen angeblicher Blasenprobleme, links um den Laster rumging und sein bestes Stück direkt vor der Beifahrertür zur Schau stellte. Ich krabbelte reflexartig auf die Fahrerseite und leitete den oben angeführten Fluchtweg ein.

Ich lernte aus diesen Situationen nicht, wie antastbar ich doch bin, sondern nur, dass mit viel Reden, Bluffen und Reflexen gerade noch ein Entkommen war.

Dies sollte sich entscheidend ändern, als ich Anfang 2O mit meinem damaligen Mitbewohner Streit wegen des zu lauten Fernsehers hatte und ohne Vorwarnung ausgeknockt wurde (heute hätte ich seine latente Gewaltbereitschaft gefühlt).

REAKTION+ LÖSUNG: keine, wegen anschließender Bewusstlosigkeit.

Meine bis dato geglaubte Selbstwahrnehmung unantastbar zu sein, verlor ihre Gültigkeit.

Mit Ende 2O schien meine mir langsam auf die Nerven gehende Anziehungskraft auf solche Machtkämpfe wieder vermehrt aufzutreten:

In meiner damaligen Wohnstätte musste ich mir mit dem Hauptmieter den Flur teilen. Als zurückgewiesener Verehrer entwickelte er Hass und Machtkampf auf sehr bedrohliche Art und Weise. Wieder wurde ein Abhängigkeitsverhältnis missbraucht, dessen Auswirkungen sich in Auflauern, Telefonterror, Stromabschalten bis hin zu Morddrohungen steigerte.

Durch meine Leidensfähigkeit blieb ich handlungsunfähig, auch durch Hund und Freund (damals noch Taekwon-Do-ler, später Wing Tsun-ler), fühlte ich mich nicht ausreichend gestärkt.

REAKTION: Ohnmacht, Wut, Panik

LÖSUNG: nach Eskalation inklusive Mordversuch, hinter abgeschlossener Tür Hammer in die Hand genommen und kampfbereit.

Eine Deeskalation fand statt durch einen weiteren Mitbewohner, der ihn ablenkte und zu sich rief. Abschließend folgten konstante Bedrohungen meiner männlichen Freunde ihm gegenüber.

Jetzt reichte es denn doch!

Auf die Idee gebracht von meinem 7 Jahre jüngeren Bruder Otfried, für den ich ironischerweise zu Kinderzeiten die Beschützerin darstellte, begann ich bei ihm, bzw. seinem Lehrer Jörg Weber endlich meine WT Ausbildung (mit 3O offizieller Eintritt in die EWTO in Bremen bei Si- Hing Hartmut Gebelein 1991).

Es wird nicht für große Überraschung sorgen, dass ich 1 Jahr später wieder in eine Gefahr hineinrutschte, die zumindest äußerlich nicht von mir provoziert wurde (das Trampen hatte ich längst endgültig aufgegeben. Ich hatte nun nach meinem Motorrad einen eigenen PKW).

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite begegneten mir 3 Ausländer, die meinetwegen die Straße wechselten und mit frauenfeindlichen Sprüchen offensichtlich meine Reaktion testen wollten.

REAKTION: Die Zeit des Bluffens war vorbei, trotz Adrenalin und Angst. Ich schlug dem Erstbesten mit dem Handrücken ins Gesicht.

Auf seine antwortende Boxposition mit der Drohung  mich alle zu machen, ließ ich meine Einkaufstasche fallen und nahm wie gelernt die Vorkampfstellung Wu-sau Man-sau ein und verbalisierte meine Machtdarstellung mit den Worten „du hast die Ohrfeige verdient“…Das war sehr riskant – ich hatte einfach mehr Glück als Verstand, dass mir in meiner Selbstüberschätzung nicht mehr passiert ist.

LÖSUNG: Angestaute Wut und Aggression loswerden (Punchingball).

Jahre später sollte dies der Leitsatz in meinen Unterrichtsstunden als Trainerin werden:  Nutze immer den Überraschungseffekt “

Nach 3 Jahren gezielten Trainings wurde ich ruhiger, meine Wut und meine Aggressionen konnten kompensiert werden durch die Lehren des Wing Tsuns. Ich wurde Assistenztrainerin des gemischten Trainings bei Otfried Glaser.

Meine Ausstrahlung schien sich auch schon dahingehend verändert zu haben, dass ich nicht mehr in abhängigkeitsmissbrauchende Verhältnisse geriet.
Aus meinem defensiven reaktiven Verhalten modifizierte sich aktives Angriffsverhalten und Zivilcourage, wenn es denn die Situation tatsächlich erforderte. Zu Beginn meiner WT- Ausbildung fokussierte ich mich auf den adäquaten Umgang mit dem Escrima. Seitdem können aufmerksame Beobachter in jeder Etage meiner Wohnung einen Escrimastock entdecken. Dieser Umstand sollte mir in folgender Situation mit von Nutzen sein:

Ich war 33 und hörte mitten in der Nacht eine Frau schreien. Niemand in dieser Straße hätte besser helfen können als ich (nein, diesmal ist es keine Selbstüberschätzung mehr, ich wusste es einfach). So nahm ich instinktiv meinen Escrimastock und versteckte diesen hinter meinem Rücken.

REAKTION ? nein, AKTION: ich verhielt mich zunächst (auch mit einem leichten Panikgefühl wie gehabt) im Hintergrund und checkte die Lage: 2 Typen stehen, einer beugt sich über die schreiende Frau, welche im Grünstreifen liegt und sich augenscheinlich wehren will. Ich behalte die Stehenden im Auge um notfalls zuerst den Knienden k.o. zu schlagen und dann die anderen. Mit Bestimmtheit rufe ich: „Was ist hier los!?“ und zeige mich. Zum Glück, wenn auch langweilig für die Leser, entschärfte sich die Situation, indem mir die drei Verdächtigen (normale Passanten, die ebenfalls Hilfestellung leisten wollten, wie sich herausstellte) sofort Rede und Antwort standen: Das vermeintliche Opfer entpuppte sich als drogenkranke Person, welche sich zu dem Zeitpunkt im akuten Rauschzustand befand und dementsprechend unter Halluzinationen litt.

Meine innere REAKTION verwandelte sich ohne direkte Bewusstwerdung in AKTION und integrierte automatisch einen Lösungsweg. AKTION und LÖSUNG wird zu einer festen Einheit. Ein innerer Angstabbau war nicht mehr nötig, zufrieden schlief ich ein mit der Sicherheit, im Notfall tatsächlich aktiv werden zu können.

1995 absolvierte ich den WT-Übungsleiter.

Anfang 1997 übernahm ich mit dieser beruhigenden Gewissheit und dem Gefühl auch wirklich die alleinige Verantwortung übernehmen zu können, das Training im Frauenprojekt in der WT-Schule Bremen.

Im Juni desselben Jahres bestand ich die Prüfung zum 12. SG.

Ich erweiterte mein pädagogisches Wissen (4 Semester Lehramtsstudium für Sport und Kunst in Freiburg und Bremen) unter anderem durch die Erarbeitung neuer Unterrichtseinheiten mit aktueller konzeptioneller Supervision, geleitet von Sigrun Glaser-Freyer (Psychotherapeutin und Dozentin für Supervision und Selbsterfahrung an der Uni Frankfurt).

Ich absolvierte regelmäßig Vollkontakttraining mit Partnern aus anderen Kampfsportbereichen wie Karate, Taekwon-Do, Boxen, Kickboxen und Judo und zusätzlich umfangreiche Einsichten in die Waffen-Abwehr und Angriffstechniken für die Selbstverteidigung im Alltag.

Dies sollte auch wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich mich- möglichst realistisch und praktisch vorbereitend für meinen Unterricht- auf Angriffe von Männern gegen Frauen, also auf Gewalt gegen Frauen allgemein, spezialisierte.

Ein weiterer Test für die professionelle Entwicklung meiner WT Fähigkeiten stellte sich Ende 1997 ein, und zwar dahingehend, dass Gefühle und hemmende Gedanken durch komplett reflexartiges Agieren ersetzt wurden.

(RE-) AKTION und LÖSUNG verschmolzen erneut:

In meiner Kneipe, in der ich als Tresenkraft jobbte, bahnte sich eine bedrohlich nach Gewalt riechende Kontroverse an. Meine Reflexe haben die Kontrolle übernommen und dadurch den negativen und hemmenden Gedankenkonstrukten keine Chance gelassen.

Der kleinere Arbeitsteil bestand darin, die Aschenbecher aus dem Weg zu räumen und einem der Aggressoren mit Verbalattacken den Queue sowie sein Bierglas aus der Hand zu nehmen.

In seinen Weg gestellt mit Blick auf die Ausgangstür zeigte ich ihm an, dass ich ihn jetzt aus der Kneipe schieben werde (unauffällige Kontaktaufnahme).

Das nächste woran ich mich erinnere ist, dass ich danach sehr schnell 5 Meter auf ihn zuging, und ihn dadurch an die Wand drückte (Druckaufbau), mit dem Abschluss, ihn durch eine Abfolge von Kettenfauststößen außer Gefecht zu setzen.

Mein erster Kampf.

So cool wie zum Zeitpunkt der Aktion war ich im Nachhinein natürlich nicht mehr.

Eine Mischung aus Selbstbewunderung und Verzückung über die Tatsache, dass ES tatsächlich funktioniert und erhöhtem Adrenalinspiegel ließen mich selbst zum Gast auf der anderen Seite des Tresens werden.

Ein Jahr später konnten mein Bruder Otfried und ich unsere Trainertätigkeit erweitern durch Selbstverteidigungskurse für die BSAG Fahrer und Fahrerinnen.

Des Weiteren nahm ich an dem Jahresprojekt der Stadt Bremen für Zivilcourage, mein Thema: Kannst Du Dir selbst helfen, kannst Du auch Anderen helfen teil und lehrte in meinen zwei Kursen unter anderem Tipps und Tricks sowie WT gegen Gewalt im Alltag.

Zu guter Letzt leitete ich im Oktober 1999 einen Landeslehrgang, veranstaltet vom Jiu- Jitsu Landesverband Bremen zum Thema Einführung Wing Tsun (wahrer Grund des Veranstalters und eigenes Interesse bestanden eher darin, eine freundliche Zusammenfügung von verschiedenen Kampfsportlern und den Abbau von Vorurteilen anderen Kampfsystemen gegenüber zu bewirken).

Mit viel Einfühlungsvermögen, Überzeugungskraft und realitätsnahen Techniken und Anwendungen (mal entspannt mit Humor, mal ernst kurz und schmerzhaft für den potentiellen Aggressor vorgetragen) verschaffte ich mir von Beginn an Sympathien und eine große Portion Respekt, was mich zufrieden über meine Ausstrahlung und mein Können vor den ganzen kampfsporterfahrenen Schwarzgurten und Dan-Trägern bis hin zu ganz finster und unerschrocken dreinblickenden Antiterrorkämpfern souverän durch den Lehrgang führen ließ…

Ein erfolgreicher Tag.

Dass viele Lehrgangsteilnehmer hinterher noch sehr interessiert waren an weiteren Trainingsmöglichkeiten ist nur am Rande erwähnenswert.

Ich schreibe diesen Erfolg sowohl meinem Werdegang als WT Schülerin bzw. Trainerin zu, als auch auf  mein erlangtes Selbstbewusstsein und meine Gelassenheit im Alltag und in traditioneller Weise auf meine Wing Tsun Familie, meinen Bruder und Si-Hing und Ausbilder Otfried Glaser, meinen anderen Si-Hing Hartmut Gebelein und meinem Sifu K. R. Kernspecht (für den ich diesen Lebenslauf im Vertrauen sehr persönlich gestaltet habe), seinen Lehrer und meinen Si-Gung Leung Ting, dessen Si-Fu, und dessen Si-Fu…in großer Dankbarkeit, und zolle hiermit meinen Respekt.

Ich grüße Dich Sifu!